In diesem Beitrag der Reihe „Veränderungen im Leben“ gehe ich der Frage nach, was unserem Handeln eine Orientierung gibt, was uns leitet und antreibt.
Ich schließe dabei an meinen letzten Beitrag an, in dem ich Persönlichkeitstypen beschrieb, die mir nicht nur in meinem Berufsleben begegnet sind und ansatzweise zu sprechen kam auf unsere inneren Antriebskräfte.
Vielleicht fragten Sie sich in den vergangenen Wochen auch gelegentlich, wofür Sie bereit sind auf die Straße zu gehen, zu demonstrieren auch dann und dort, wo Sie möglicherweise Anfeindungen in Kauf nehmen müssen? Vielleicht haben Sie es getan? Warum? Wozu?
Werte prägen unser Handeln, geben dem Leben einen Sinn
Zweifellos ist es nicht immer leicht, sich zu aktivieren, das aufzugeben, was man hat, bewährte und ausgetretene Pfade zu verlassen. Hierzu braucht es gute Gründe, die Bereitschaft, veränderte Perspektiven an sich heranzulassen, die Kraft, möglicherweise vorhandene Ängste zu überwinden, also ein starkes inneres Motiv, dass uns antreibt. Immer wieder bedarf es auch der Impulse von außen, sind wir Menschen doch eher bereit, etwas Bekanntes auszuhalten, als etwas Unbekanntes zu wagen, selbst wenn wir unter dem Bestehenden leiden.
Noch vor konkreteren Zielen sind es die allgemeineren bzw. abstrakteren Wertvorstellungen, die uns ermutigen, unsere Komfortzone zu verlassen. Wer oder was bin ich oder wie möchte ich sein? Wie möchte ich von anderen gesehen werden? Was hat für mich einen Wert? Wofür stehe ich ein, wofür arbeite ich, zeichne ich mit meinem guten Namen? Ohne ein Bewusstsein dafür, was für uns wichtig ist und ohne eine klare ethische Orientierung, haben wir Schwierigkeiten, den für uns richtigen Weg zu finden.
Werte beeinflussen unser Denken und Empfinden, prägen unser Handeln. Sie geben dem einen Namen, was uns etwas wert und wichtig ist. Sie lassen uns selektieren, welche Ziele wir anstreben, welche Mittel wir verwenden und auf welche Art wir handeln. Werte sind der Rahmen, in dem wir entscheiden, ob wir etwas als gut und richtig, wichtig und wertvoll ansehen; mittels unserer inneren Werteordnung befürworten wir dann auch gesellschaftliche Entwicklungen oder lehnen sie ab.
Werte haben wir uns in unserem Leben mal mehr oder mal weniger bewusst zu eigen gemacht. Hinterfragt und neu diskutiert werden sie nicht nur in der Pubertät, sondern auch wenn einschneidende Erlebnisse das Leben verändern: Berufsstart, Familiengründung, Scheidung, Krankheit, Verlust einer wichtigen Person. Sie können und werden sich also im Laufe des Lebens immer wieder verändern.
Im Internet finden sich dazu diverse Ausführungen und Auflistungen von Werten, unter anderem auch ein link zu „Das große Buch der Werte“. Hier nur eine kurze, subjektive Auswahl: Authentizität, Dankbarkeit, Demut, Geduld, Gerechtigkeit, Respekt, Toleranz, Verlässlichkeit …
Werte von Institutionen und Gesellschaften
Werte beziehen sich nicht nur auf eigene Überzeugungen, Verhaltensweisen und Ideale in unterschiedlichen Lebenskontexten, sondern auch auf Institutionen, gesellschaftliche Einrichtungen, und vieles andere. Wie wir brauchen auch Institutionen Werte und Visionen. Sie geben dem Handeln einen Sinn über den konkreten Auftrag hinaus. Dazu zwei Beispiele aus meinem Berufsleben:
- Die Erarbeitung einer „Gemeinsame Wertvorstellung“ war „das Wichtigste“ für die (Weiter-) Entwicklung eines Instituts mit mehr als 200 Beschäftigten – in dem ich die letzten sieben Jahre meines Berufslebens überwiegend als Berater, Moderator, Change-Agent und Entwickler tätig war -, unter anderem für die „Identifikation“ mit dem Institut, ein „Gemeinsames Qualitätsverständnis“, die „Orientierung im Arbeitsalltag“…., alles Elemente einer Corporate Identity.
Als ich sechs Jahre nach der „Initial-Klausur“ zur Entwicklung eines Leitbildes das Institut verließ, waren nicht nur die Leitsätze in einem intensiven und breit angelegten Prozess verabschiedet, sondern viele Schritte zu deren Verwirklichung angestoßen und umgesetzt.
- In einem Leitbild- und Qualitätsentwicklungsprozess mit den Trainerinnen und Trainern für die Qualifizierung von SchulleiterInnen, den ich initiierte, moderierte oder leitete, zitierte ich zur Einstimmung auf die anschließende Wertediskussion und Wertefestlegung aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten;…“ (Quelle; Hervorhebungen vom Verfasser)
Mit diesen Beispielen möchte ich deutlich machen: Eine gewünschte oder erträumte Realität stellt sich nicht von selbst ein! Man muss etwas tun, den Weg gehen, der zum Ziel führt. Die Mühen der Umsetzung, des Alltag bleiben uns nicht erspart, selbst wenn wir in einer imaginären Reise durch Zeit und Raum geschaut haben, was nach einem Zeitraum x geschaffen wurde, was hinter einem liegt, welche Hindernisse aus dem Weg geräumt werden mussten … (Szenariotechniken). Von nichts kommt nichts, nur wer sich bewegt, wird etwas bewegen!
Werte priorisieren und ausbalancieren
Zuerst einmal müssen aus der Vielzahl von vermeintlich wichtigen Werten diejenigen ausgewählt bzw. erwählt werden, die uns wirklich wichtig sind. Den in den aufgeführten Beispielen kurz angerissenen Abstimmungs- und Abwägungsprozess, die Prioritätenbildung mit all ihren Diskussionen muss jede Einzelne und jeder Einzelne mit sich selbst führen. Gut nachvollziehbare Ausführungen dazu sind hier zu finden.
Eine intensive, wahrhaftige Auseinandersetzung mit Werten wird deutlich machen, dass jeder Wert und damit jedes Handeln, das als das einzig Richtige gesehen wird, zum dogmatischen Verhalten führt. Dann verkehrt sich ein Wert ins Gegenteil; aus Beständigkeit wird Starrheit, aus Flexibilität Beliebigkeit.
Wie auf einer Waage brauchen Werte ein Gegengewicht. In Workshops nutzte ich in den diesbezüglichen Arbeitsphasen das Werte- und Entwicklungsquadrat des Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun. Er „beschreibt im Werte- und Entwicklungsquadrat, dass es zu jedem Wert einen positiven Gegenwert geben muss, die sogenannte „Schwestertugend“. Befinden sich die beiden positiven Werte nicht in Balance, wird einer der beiden ins Negative umschlagen“ (Quelle). Schulz von Thun „nimmt an, dass jeder Mensch nur dann sein volles Potenzial ausschöpfen kann („und dann der Regenbogen scheint“), wenn zwischen allen Werten in uns ein Ausgleich zu einer „Schwestertugend“ stattfindet.“ (Quelle)
Hierzu zwei Charts aus meinen Workshops, in dem positive Werte, deren extremen Ausformungen und die Entwicklungsrichtungen für den Ausgleich dieser Übertreibungen („Des Guten zu viel”) dargestellt werden:
Lebenszufriedenheit schaffen
„Unsere wahre Aufgabe ist es, glücklich zu sein.“ (Dalai Lama)
Wir alle möchten ein erfülltes, glückliches Leben führen, diesem einen Sinn, eine tiefe Zufriedenheit geben. „Denn es wäre schade, es nicht zu genießen, dieses einzigartige Geschenk, ein paar Nanosekunden der Ewigkeit auf dieser Welt zu sein.“ (so der Schwede Jonas Jonasson, Autor des „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, in einem Interview der FAS vom 17.12.2023, S. 11).
Anscheinend korreliert die allgemeine Lebenszufriedenheit nicht mit wirtschaftlichem Wohlergehen. „Es ist interessant festzustellen, dass einige Länder, die in der jüngeren Vergangenheit mit niedrigen Einkommensniveaus in Verbindung gebracht wurden, wie Rumänien und Polen, zu den Ländern gehören, in denen die Lebenszufriedenheit am höchsten ist“, wohingegen sie in Deutschland (nach Bulgarien) am niedrigsten ist (Statistik der Eurostat zur Lebensqualität in der EU 2022).
Hat dies eventuell mit einem Mangel der Deutschen an Selbstwertgefühl zu tun, den bald zu überwinden sie alle Gründe der Welt hätten (so Jonas Jonasson in o.a. Interview)?
Politisch-gesellschaftlich scheint auch unser ehemaliger Bundespräsident Joachim Gauck (zusammen mit Helga Hirsch) ein geringes Selbstvertrauen der Deutschen zu spüren, wenn er in dem Buch „Erschütterungen – Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ (Siedler Verlag, München, 2023) fragt: „Warum haben so viele Menschen nur ein geringes politisches Selbstvertrauen und ein schwaches Bewusstsein von der Kraft unserer [demokratischen] Werte?“ (siehe dort, Seite 9)
Mit zwei weiteren Zitaten aus diesem Buch möchte ich auch auf meinen zweiten Blogbeitrag (Angst vs. Mut) und den ersten Satz meiner Beitragsreihe (ich möchte Mut machen) hinweisen: „Die gegenwärtigen Erschütterungen und Veränderungen können unsere Demokratie am Ende nur dann wirklich bedrohen, wenn wir, die Bürgerinnen und Bürger, allein mit Angst und Ignoranz reagieren.“ „Ich weiß, wie viel Kraft dem Menschen innewohnt, wie viel er zu gestalten und wie er tatsächlich Dinge zum Guten zu wenden vermag.“ Auch wenn von vielen viel zu tun ist: Die Demonstrationen der letzten Wochen geben Anlass zu Hoffnung, denn mit Wegschauen und Weghören wird nur anderen Akteuren das Feld überlassen.
„Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe“
Mit diesem von mir immer mal wieder verwendeten, mal Albert Camus, mal dem Dalai Lama oder auch Götz Werner zugeschriebenen Zitat möchte ich diesen Beitrag enden lassen. Das Zitat soll überleiten zu meinem nächsten Beitrag, in dem ich thematisieren werde, wie wir von unseren Werten auf die konkrete Handlungsebene kommen